Martin G. Wanko
^ Miami Vice ^  

Himmel, ist das alles schön
Huemer-Wanko Buch

Kapitel 1
Ich habe die Augen geschlossen, als es passiert. Yvonne
fährt und labert. Seit wir die Party bei den Stahlguts verlassen
haben, labert sie wieder unglaublich peinlichen
Quatsch; wie es ihr selbst manchmal vorkomme, dass
wir in der Matrix lebten, wie surreal das alles sei, vor
allem jetzt gerade wieder: die nächtlichen Straßen, der
perlenschnürige Regen, die Pfützen mit unseren Scheinwerfern;
wie ausgedacht wirke das doch, so, ja, so…
Ja?
PFFNKKT.
Ich habe die Augen geschlossen, als es passiert und
denke gerade, dass unsere Sitze von einem in Beziehungen
erfahrenen Konstrukteur exakt so weit auseinander
designt wurden, dass mein Ellbogen ihr, Yvonne, – zack!
– die Nase brechen könnte. Da höre ich dieses satte
Pffnkkt, kaum ein Reifenquietschen, eher ein graues
Schaben, und irgendwann drückt sich mein Hinterkopf
in die Nackenstütze, federt wieder nach vorne und alles
stinkt nach Airbag.
Wir sind in unserer Straße, vielleicht zwanzig Meter
von unserem Haus entfernt, es regnet stark und ein paar
Meter vor meiner Kühlerhaube liegt ein regloser Körper.
Irgendwie wäre mir lieber, wenn Yvonne dort läge,
mit all den unnatürlichen Winkeln in den Gliedmaßen
und dem Nichts im Gesicht. Doch stattdessen muss ich
sie beruhigen, hier, jetzt: PARK – DAS – VERDAMMTE
– AUTO, während ich den Tschetschenen, unseren
nie um ein Schweigen verlegenen Nachbarn, an seiner
Rolex in eine Lücke zwischen zwei Wagen zerre, dem
leichten Schaben des Scheibenwischers lausche, aber absolut
nichts fühle, nichts außer dieser gigantischen Abneigung
meiner Frau gegenüber.
Bremsweg, Fingerabdrücke. Tatzeit, Alibi. Schon jetzt
denke ich an alles.
Niemand sonst auf der Straße, keine neugierigen
Nachbarn, ein Lob dem Bürgerviertel. Mir ist kalt. Wo
Gefühle sein sollten – Angst, Durst und Ekel – ist alles
superkahl, aber vielleicht ist das auch nur Yvonne.
Yvonne heult. »Halt endlich dein Maul«, zische ich,
alle drei sind wir nass bis auf die Knochen, der Tschetschene
nicht nur vom Regen, auch wenn es wenig
Blut ist, sehr wenig und hauptsächlich aus den Ohren.
Yvonne packt seine Knie, heulend, und ich wuchte ihn
– stell dich nicht so an! – auf den Beifahrersitz unseres
Autos, zerre ihn zurecht. Ich könnte sie stundenlang anbrüllen:
Er ist schon tot, verdammt! Umgefahren, gestorben,
abgemurkst.
Ich möchte sie fragen, ob das alles immer noch so surreal
sei, nicht real genug, ich schlinge den Gurt um ihn, brülle:
»Geh rein! Okay? Geh rein! Du holst dir den Tod.«
Ich habe keine Ahnung, warum.
Diese Scheißparty! Ich musste viel trinken, vor allem,
weil Yvonne mir in den Ohren gelegen war, ich sollte
mich einmal zusammenreißen (»einmal nicht trinken
wie ein Schwachsinniger, wenigstens einmal«), und Albert
Reder mir und Helga, seiner Frau, das muss man
sich mal vorstellen, zum Teich nachschlich und jegliche
Vibes zerstörte: »In der Sahara, Kraftwerke, die Sonnenlicht
in Strom verwandeln, mehr als 2.000 Kilowattstunden
pro Quadratmeter könnte man gewinnen, Guido;
als würde es Öl vom Himmel regnen, Guido, mehr als
2.000 Kilowatt.« – »Halt doch dein Maul, Albert.«
»Ich mag deinen Humor«, hatte Helga mir anvertraut,
sich schicksig bei mir eingehängt, mich zum Teich
gezogen.
Helga ist älter als ich, Bürojob, gute Beine, und das
Affige daran, wie wir so auf den Kieseln stehen, sie mir
Adventaugen macht, ich mein Glas Bowle downe und
Albert (»das ist dein Viertes, ich habe mitgezählt, hihihi
«) uns überrascht, wie wir noch gar nichts tun, das
Affige daran ist: dass beide es ernst meinen. Sie mag
meinen Humor wirklich! Er zählt wirklich mit.
»Halt doch dein Maul, Albert!«
Helga fängt an zu glucksen.
2.000 Kilowattstunden.
Das Problem ist nicht, dass Karl-Heinz und Mia
Stahlgut mehr Geld haben als alle ihre Gäste zusammen.
Das Problem ist, dass sie mit diesem ganzen Der-Große-
Gatsby-Partywahnsinn so tun, als wäre es noch mehr.
Ihr Anwesen ist eine Dünkel-Burg, ein Trutz-Chateau,
ein Blackwater-Schloss, und alle Wege sind weit.
2.000 Kilowattstunden! Das ist genug…
»Sei doch, Himmel noch mal, nicht so verdammt
grün!«
Ich rotze Albert diese Bitte vor die Füße, stopfe mir
mein ganzes Bowle-Obst in den Mund, auf Effekt, dränge
ihm, während Obstsaft aus meinen Mundwinkeln quillt,
das Glas in die Hände und gehe den Weg hinauf und über
die Terrasse ins Wohnzimmer, wo Tanja, die Kollegin von
Yvonne, die mit dem Rückenausschnitt, buchstäblich gerade
in den Pimm’s heult, weil ihr dämlicher Bruder, den
niemand von uns kennt, vor kurzem seinen Job verloren
hat und jetzt nicht mehr weiter weiß.
Zwei Sandalen tragende Typen, die ich nicht kenne
und die sicher weder Tanja noch ihren Bruder kennen,
stehen um sie herum und finden das natürlich furchtbar.
»Ein Hoch auf die Förderkultur!«, brülle ich einen
Toast, das leere Glas erhoben; niemand, mit dem man
ein auch nur halbwegs vernünftiges Wort wechseln
könnte, Yvonne in einer Ecke mit Jubilar Karl-Heinz,
»das ist im Endeffekt Erd-Burzeldorn und ein Mix
aus…«, gewährt er nun auch ihr seine Bio-Viagra-
Erfolgsgeschichte. Ich werfe Mia, seiner Frau, aus gut
zwei Metern einen Eiswürfel in den Ausschnitt, treffe,
rufe: »He, Mia-Muschi«, und dann noch irgendwas,
und Yvonne verzieht betont keine Miene. Konventionelle
Ignoranz.
»Ihr seid alle so scheißgrün«, lache ich, gieße irgendetwas,
das nicht schäumt, in mein Glas, und dann
schimpfe ich über das Finger Food.
Genauso gut könnte ich aber über das Haus herziehen,
den Garten, die vollkommen verstellte Terrasse, auf
der alle paar Meter Fackeln brennen.
Mia drückt sich an mich, als sie die nächste Flasche
Gin vom Regal holt, lacht schrill in mein Ohr, und Albert
Kilowattstunde Einstein, der sich mit Helga zum
Gehen rüstet, »bevor das Gewitter zuschlägt, hihi«,
blickt krampfhaft nie in meine Richtung, schüttelt
Hände wie ein Trottel und eröffnet Yvonne, dass er sie
bedauere; sehr; meinetwegen.
Ich gehe ihnen nach zu ihrem Cabrio, lasse die Eiswürfel
klackern. »He, Albert«, rufe ich, »wenn man ein
Idiot ist, ist das so, als wäre man die ganze Zeit high?«
Später nimmt mich Karl-Heinz beiseite. Ich – was
schenkt man reichen Leuten? – hatte ihm lässig sein
Geburtstagsgeschenk zugeworfen – fang! – eine Erstausgabe
von Dale Carnegies »Sorge Dich nicht, lebe!«,
ein Scherz, den er verstehen sollte. Karl-Heinz wirft das
Geschenk weiter auf jenes Sofa, das vielleicht doch kein
West ist, und zieht mich mit sich über die Auffahrt hin
zu einem der Nebengebäude. Ein Garagentor öffnet
sich. Aus der Ferne höre ich Mia lachen, ihr echtes Lachen,
und in der Garage, in der jetzt automatisch das
Licht angeht, steht der größte Audi, den ich je gesehen
habe, größer als eine Yacht. Karl-Heinz mustert mich von der Seite. Ich ahne, dass
ich beeindruckt aussehe, und gehe einfach along damit.
»Geburtstagsgeschenk?«
»Yep«, sagt Karl-Heinz, dreht sich um und geht wieder
zurück zum Fest, »Vierzig und kein bisschen weise.«
Das größte Auto, das ich je gesehen habe, denke ich,
habe nichts mehr im Glas, verliere mich im metertiefen
Lack dieses Wunders, denke, dass nie mehr als zwei Personen
darin Platz nehmen werden, erschrecke kurz, weil
das so ein beschissener Albert-Gedanke ist und grinse
Karl-Heinz hinterher ins Haus.
Das Nieseln hört auf, als ich endlich am Fluss bin.
Ich stehe am Rande der Rampe, von der im Winter der
Schnee in den Fluss gekippt wird, und es regnet leise
nasse Kirschblüten auf mich nieder; in meinen Haaren,
in meinem Ausschnitt: Blütenblätter. Ich stehe in einem
Regen aus Kirschblüten wie in einem meiner eigenen
Bühnenbilder.
Die Motorhaube meines Porsche drückt sich gegen
den Stamm. Ich habe, stelle ich fest, zufrieden und auch
nicht, die Stelle, an der Yvonne ihn touchiert hat, erwischt.
Das Gesicht des Tschetschenen, unseres Nachbarn
mit den Wangenknochen-Freundinnen, presst sich
von innen gegen die Scheibe. Noch immer fallen nasse
Blüten auf mich und den Porsche, ich versuche, sie von
meinem Ärmel zu wischen, aber sie kleben.
Ich schleife den Tschetschenen zur Rampe, durchsuche,
warum auch immer, seine Taschen, nehme seinen
Schlüsselbund, seine Brieftasche, seine Rolex an mich
und trete ihn geduldig ins Wasser. Ich könnte Yvonne
umbringen.
Als ich zuhause ankomme, ist es halb vier, und ich
bin nicht einem Menschen begegnet. Ich bin hellwach.
Ich gehe ins Wohnzimmer, vermute Yvonne dort zu finden,
in Decken gehüllt und heulend, sehe aber nur Stift
und Zettel unter der eingeschalteten Stehlampe.
Ein Abschiedsbrief!, tanzt es mir durch den Kopf, ihr
Abschiedsbrief, sie liegt hier irgendwo, und obwohl das
alles ändern würde oder gerade weil, drehe ich mich um,
gehe noch einmal zurück und horche an der Schlafzimmertür.
Nichts.
Im Bad zerre ich mir die nassen Sachen vom Leib,
werfe sie in den Mistkübel, verknote den Müllsack und
wasche mir gründlich Hände und Gesicht. Dann erst
gehe ich zurück ins Wohnzimmer, setze mich nackt auf
das Jacobsen-Sofa und nehme den Zettel. Es ist der Beipacktext
zu jenem Schwangerschaftstest, der harmlos
weiß direkt im Lichtkegel liegt. Im Sichtfenster ein rosa
Punkt.


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